Gewalt begegnen, bevor sie da ist

Jugendliche sind verunsichert. In den Medien haben sich Berichte über Gewaltvorfälle unter Minderjährigen gehäuft. Das Gefühl, man müsse sich rüsten – auch mit Waffen – ist verbreitet. Das ist deshalb so gefährlich, weil Konflikte, wie sie unter Jugendlichen normal vorkommen, lebensbedrohlich eskalieren, sobald Waffen ins Spiel kommen.

Einen Löschzug loszuschicken, wenn es bereits lichterloh brennt, verhindert nicht, dass es wieder irgendwo zu brennen anfängt. Gewalt gehört deshalb zu jenen Themen, die die Jugendarbeit permanent im Auge behalten und regelmässig angehen muss.

Nur Erwachsene, die eine dauerhafte Beziehung mit Jugendlichen pflegen und deren Zugewandtheit die Jugendlichen kontinuierlich spüren, werden in der Lage sein, das Thema zu erspüren, bevor es akut ist. In dieser Tatsache zeigt sich die grosse Stärke der Jugendarbeit – zumindest wenn sie dauerhaft in einer Gemeinde installiert ist und die Jugendarbeitenden selten wechseln.

Ein gutes Beispiel dafür ist eine Gemeinde im Zürcher Oberland, in der unsere Jugendarbeiten über viele Jahre gewirkt und dabei den Fokus immer wieder und über längere Zeit auf die Gewaltprävention gelegt haben.

Unter anderem wurde den Mädchen ein Wochenend-Workshop zum Thema Selbstverteidigung im Jugendhaus geboten. Wenige Wochen später folgte ein Austausch-Angebot für die Jungen. Die Idee, das Thema geschlechtergetrenntes anzugehen, entstand aus der Beobachtung der zuständigen Jugendarbeiterin, dass Mädchen im Jugi eher untervertreten waren und sie das sensible Thema unter sich sollten vertiefen dürfen.

Zehn Mädchen waren dem Aufruf der Jugendarbeit gefolgt. Bereits die ersten Minuten waren für die Kursleiterinnen von Weg ohne Angst (WoA) und für die Teilnehmerinnen gleichermassen aufschlussreich. In einer Diskussionsrunde ging die Gruppe Fragen nach wie: Warum haben viele Frauen Angst, wenn sie allein unterwegs sind? Kann Kleidung eine Einladung für Täter darstellen? Warum wird jemand sexuell übergriffig?

Grenzen spüren

Die Reflexionsfähigkeit der Teenager war beeindruckend. Schnell kamen sie überein, dass die Angst, unterwegs überfallen zu werden, vor allem durch Filme und Social Media genährt werde. Umso erstaunter waren sie, als sie erfuhren, dass nur 16 Prozent aller Übergriffe von Fremden verübt werden. Im Gespräch wurde klar: Es geht nicht darum, bestimmte Situationen grundsätzlich zu meiden und schon gar nicht, sich angemessen zu kleiden. Vielmehr besteht der grösste Schutz vor Übergriffen darin, die eigene Grenze zu spüren und sie aufzuzeigen.

Die Teilnehmerinnen übten das Grenzensetzen deshalb intensiv. Sie lernten zu unterscheiden, welche Art von Kontakt und Berührung okay ist und welche nicht. Es zeigte sich, dass es keine absoluten Antworten gibt: Was sich gut anfühlt und was nicht, hängt auch vom Gegenüber ab. Der Massstab ist das eigene Gefühl, das ernstgenommen werden und deutlich deklariert werden soll. «Ein kleines Nein», wie es die Kursleiterinnen nannten, reicht nicht immer aus: «Ein grosses Nein» werde laut, deutlich und bestimmt ausgesprochen. Die Wirkung erfuhren die Mädchen im direkten Kontakt mit einem Trainer von WoA, der im Rahmen einer Übung auf jeweils ein Mädchen zuschritt und erst dann stoppte, wenn das Nein überzeugend wirkte.

Neben den vielen Übungen, die das Vertrauen in die eigene Kraft stärkten, etwa das Zerschlagen eines Bretts mit der blossen Hand, profitierten die Jugendlichen vor allem von konkreten Techniken, mit denen auch zierlichen Menschen grosse Wirkung erzielen. Wie man sich aus einer Umklammerung löst und sich mitgezielten Schlägen oder Handgriffen im Kampf einen Vorteil verschafft, konnten die Mädchen ebenfalls mit dem Trainer ausprobieren, der sich dafür mit einem Schutzanzug ausrüstete. Den Mädchen gefiels: Es sei cool gewesen, und sie fühlten sich deutlich sicherer und gut gestärkt, lautete ihr einhelliges Feedback.

Männliche Klischees

Wenige Wochen später setzten sich ausschliesslich Jungs in einem Diskussionsabend mit ihrem männlichen Rollenverständnis und ihrem Umgang mit Gewalt auseinander. Ein Gewaltpädagoge diskutierte mit den rund 20 Anwesenden über Fragen, die zuvor über Wochen hinweg anonym in einer Box im Jugi gesammelt worden waren, darunter auch welche, die nicht von den Anwesenden selbst stammten. Besonders zu diskutieren gaben Fragen von Mädchen, etwa: «Alle Jungs sind selbstverliebt. Warum?» Diesen Vorwurf wiesen die Jugendlichen vehement von sich.

Auch über die Frage, ob sie Gefühle hätten oder nur krass täten, zeigten sie sich entrüstet. Dem Klischee des harten Kerls wollten keiner entsprechen. Die Jugendarbeiterin bestätigte: «Es waren einige ältere Jugendliche dabei, die sich sonst eher von der harten Seite zeigen, sich hier aber reflektiert einbrachten.»  Uneinig waren sich die Jugendlichen in der Frage, wie man sich im Falle einer Bedrohung wehre: Während die einen den Rückzug im Sinne einer Deeskalation bevorzugen, fanden andere, es sei eine Frage der Ehre, dass man sich nichts bieten lasse.

«Genau darum ging es uns: eine Diskussion anzuregen, statt fertige Antworten zu liefern», erklärt die Jugendarbeiterin. Ihrer Erfahrung nach arbeite das Thema in den nächsten Wochen weiter. Damit habe die Jugendarbeit erreicht, was sie angestrebt hatte: dass ein Klima geschaffen werde, in dem das Thema präsent sei und immer wieder besprochen werden könne. Nicht zuletzt sollte das Vertrauen in die Jugendarbeit gestärkt werden, sodass Jugendliche Vertrauenspersonen haben, an die sie sich bei einer Gewalterfahrung wenden können.

 

Mit Jugendarbeit gegen Waffendelikte
Jugendliche müssen stören