Wo Jugendliche Hilfe finden

Dass gerade besonders viele Jugendliche Hilfe brauchen, ist in der Fachwelt unumstritten. Bei der Frage, wo sie sie bekommen, scheiden sich die Geister.

Klar ist, dass Jugendliche – wenn überhaupt – oft erst dann Hilfe bekommen, wenn sie längst tief in einer psychischen Störung stecken oder eine offensichtliche schwere Lebenskrise erleben. Die meisten leiden still, über Jahre hinweg.

Nachdem sich der Notstand in den letzten Jahren massiv verschärft hat, die psychiatrischen Kliniken überlaufen und Psychotherapeutinnen über Monate hinweg ausgebucht sind, beginnen Gemeinden und Städte Anlauf- und Beratungsstellen zu installieren. Werden sie die unzähligen Jugendlichen auffangen können, die sofort Hilfe benötigen und eigentlich schon längst benötigt hätten?

Wir glauben nicht.

Es gibt viele Gründe, weshalb Jugendliche solche Stellen kaum von sich aus aufsuchen werden, und viele weitere, weshalb sie auch kaum von jemandem dahin begleitet werden.

In unseren Weiterbildungen bitten wir die zum Teil noch sehr jungen Erwachsenen, sich zu erinnern: Wir gross hätte ihre Not sein müssen, damit sie sich überwunden hätten, überhaupt Hilfe zu suchen?  Hätten sie sich an Erwachsene gewandt oder eher an Freundinnen, Chats, Internetforen? Welche Erwachsenen hatten das Potenzial, ihre Vertrauensperson zu sein?

Sich aktiv auf die Suche nach Hilfe zu begeben, also jemanden von sich aus aufzusuchen, ist unserer Erfahrung nach gerade für Jugendliche ein unüberwindbares Hindernis, sei es, weil sie sich als zu wenig wertvoll empfinden, um Hilfe zu bekommen, weil sie Angst haben, als Dramaqueen dazustehen, oder weil sie glauben, selbst schuld an der Situation zu sein. Eine fremde Fachperson an einer eigens eingerichteten Stelle aufzusuchen, ist mit dem Gefühl verbunden, nicht mehr zurück zu können, ein angefangenes Gespräch zu Ende bringen zu müssen, unwiderruflich angefragt zu haben.

Wir sind überzeugt, dass Jugendliche sich am ehesten Erwachsenen öffnen, die ihnen vertraut sind und die sie in einem unverfänglichen Rahmen jederzeit ansprechen können. Wenn sie also zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten immer wieder den gleichen Erwachsenen begegnen, die dort einfach sind, offen, zugewandt, interessiert, aber ohne Programm, ohne Aufgabe und ohne Erwartung. Wenn sich Jugendliche jederzeit selbst entscheiden, ob es zu diesem Kontakt kommt oder nicht, ob sie sich auf ein Gespräch einlassen oder nicht und falls ja, es jederzeit wieder abbrechen können. In einem Satz: Wir glauben, dass einzig die offene Jugendarbeit das Potenzial hat, grossflächig als Anlaufstelle für alle Jugendlichen zu funktionieren.

Doch warum sollten nicht auch andere wichtige Bezugspersonen dazu in der Lage sein?

Eltern

Jugendliche befinden sich in einem Ablösungsprozess, sie suchen ein Umfeld ausserhalb ihres Elternhauses. Aus Sicht betroffener Jugendlicher sind die Erziehungsberechtigten oft auch Teil des Problems. Doch selbst wenn (oder gerade weil) viele von ihnen auch liebevolle, empathische und interessierte Eltern haben, verschweigen sie zu Hause ihre Probleme: Die eigenen Eltern sind die letzten, die Jugendliche mit ihrem Unglück enttäuschen wollen. Auch wenn sie manchmal undankbar scheinen, das frischgesaugte Sofa vollkrümeln, die leere Orangensaftpackung in den Kühlschrank zurückstellen und am Frühstückstisch ein freundliches «Guten Morgen» mit einem Augenverdrehen erwidern – sie wissen, dass ihre Eltern rackern, verzichten und sich sorgen und dass sie alles daran setzen, sie in ein glückliches und erfolgreiches Leben zu begleiten. Diese grösste Erwartung von allen, man möge glücklich sein, nicht erfüllen zu können, ist für Kinder eine grosse Belastung.

Umgekehrt passiert es öfter als vermutet, dass Eltern ihrerseits nicht in der Lage sind, die Probleme ihrer Kinder zu erkennen. Sei es, weil sie die Probleme ihrer Kinder auf eigenes Versagen zurückführen oder weil sie sich hilflos fühlen bei der Vorstellung, sich einem Kind, zu dem sie den Kontakt verloren haben, ausgerechnet mit so einem Thema wieder anzunähern. Die Ursachen dafür, dass Eltern die Probleme ihrer Kinder übersehen oder verdrängen, sind vielfältig. Psychologisch geschulte Personen werden diesen Mechanismus besser erklären können als wir. Tatsache ist, dass dieses Phänomen existiert.

Lehrpersonen

Auch Lehrpersonen stehen nicht an oberster Stelle, wenn es darum geht, um Hilfe zu bitten. Sie haben einen Bildungsauftrag und die Aufgabe, so viele Kinder wie möglich über eine vorbestimmte Ziellinie zu bringen. Selbstverständlich gibt es viele, die sich für die Kinder ihrer Klasse interessieren, die wahrnehmen, wenn etwas nicht stimmt und sich Gedanken machen, wie sie dem betreffenden Kind helfen können. So sind es in der Regel Lehrerinnen und Lehrer, die Kinder mit dem Schulsozialarbeiter oder der Schulpsychologin verbinden. Doch Hilfe in dieser Form hat kein System, Lehrpersonen sind nicht entsprechend ausgebildet und werden dazu – ausser im Fall von meldepflichtigen Beobachtungen – nicht angehalten.

Umgekehrt ist es eher unwahrscheinlich, dass sich eine Jugendliche oder ein Jugendlicher bei Problemen von sich aus an die Lehrperson wendet. Zum einen gibt es kaum Gelegenheiten, in denen sich ein Kind unauffällig allein mit einer Lehrperson unterhalten kann. Zum anderen sind Kinder es gewohnt, dass die Lehrperson fast jede ihrer Handlungen, Äusserungen und Erzeugnisse bewertet und damit über die weitere Laufbahn des Kindes entscheidet. Gerade im Jugendalter, in dem Kinder oft mit mehreren Lehrkräften konfrontiert sind, stellen letztere kaum mehr Bezugspersonen dar.

Andere Bezugspersonen

Die Hoffnungen auf Trainerinnen, Musiklehrer oder beispielsweise Pfadileiterinnen zu setzen, ist fast ebenso aussichtslos. Vereinsaktivitäten sind durch den Vereinszweck definiert, das Zusammensein zeitlich beschränkt, eine Gruppe löst die nächste ab, unverplante Zeit für zwanglose Gespräche ist nicht vorgesehen. Selbst in Jugendorganisationen, in denen es am ehesten zu unbelasteten und vorurteilslosen Begegnungen zwischen Kindern und (beinahe) Erwachsenen kommt und in denen auch am ehesten auffällt, wenn ein Kind sich anders als üblich verhält, ergibt sich oft keine Möglichkeit, näher auf ein einzelnes Kind einzugehen, weil der Leiter gerade die Seilbrücke sichert, eine Wunde verarztet oder die verloren gegangene Gamelle suchen muss.

Manche Kinder haben das Glück, in ihrem Umfeld eine Bezugsperson zu haben, die sich ausserhalb all dieser Systeme befindet: eine nette Nachbarin, ein engagierter Götti, die viel ältere Stiefschwester. Doch solche Bezugspersonen stehen längst nicht allen zur Verfügung und sie sind – anders als Jugendarbeitende – nicht psychosozial geschult. Ob und wie gut sie helfen können, ist vom Glück abhängig.

Fazit: Die meisten der Kinder, die heute von Hilfsangeboten profitieren, tun dies genau dank oben genannter Erwachsener, dank Eltern, Lehrpersonen, Trainern, Musiklehrern, Leiterinnen von verbandlichen Jugendgruppen, Nachbarinnen, Göttis und Freundinnen der Familie. All diese erwachsenen Menschen sind wichtige Maschen im Sicherheitsnetz Jugendlicher. Und doch: Ob ein Kind Hilfe bekommt, hängt vom Zufall ab. Der grösste Teil der hilfebedürftigen Kinder bekommt keine. Ihnen hat der Zufall nicht geholfen. Es fehlt ein System, das darauf angelegt ist, alle Kinder aufzufangen, wenn sie fallen.

Fachstellen

Nun mag man einwenden, dass eine Fachstelle doch genau das bietet, was Jugendliche in der Not brauchen: einen geschützten Raum, eine geschulte Fachperson, Anonymität, Freiwilligkeit. Doch damit Beratungsstellen funktionieren könnten, müssten Jugendliche selbst feststellen, dass sie professionelle Hilfe brauchen, sie müssten wissen, dass es diese stationäre Beratungsstelle gibt, sie müssten den Mut haben, dorthin zu gehen, unter Umständen müssten sie sicher sein, dass sie dabei nicht gesehen werden.

Unsere Erfahrung als Jugendarbeitende hat uns gelehrt, dass schon sehr viel passiert sein muss, ehe Jugendliche bereit sind, aktiv nach Hilfe zu suchen – und selbst dann sind es eher Freundinnen und Kollegen, die sich an Erwachsene wenden. Warum?

Fehlender Zugang zu eigenen Gefühlen

Ein Kinderleben ist zu weiten Teilen fremdbestimmt. Besonders Kinder autoritärer Eltern bekommen vorgeschrieben, wann und wie die Körperpflege stattfindet, was sie anziehen, wann und was sie essen, womit sie sich beschäftigen etc. Sobald sie in die Schule kommen, sind die Tage durchgetaktet. Selbst reden dürfen Kinder nur, wenn sie dazu aufgefordert werden. Dabei muss ihre Antwort die Erwartung erfüllen und wird unmittelbar bewertet. Viele Kinder haben wenige Gelegenheiten zu spüren, was sie selbst wollen, geschweige denn, diesen Impulsen nachzugehen. Sie lernen systematisch, ihre eigenen Wünsche und Ideen zu unterdrücken. Dass dabei auch viele Gefühle dieser von aussen installierten Selbstkontrolle zum Opfer fallen, liegt auf der Hand, zumal auch heute noch viele Kinder täglich abwertende Aussagen zu ihren Gefühlen zu hören bekommen: «Jetzt raste doch nicht wegen jeder Kleinigkeit aus.» «Himmel, das ist doch nicht so schlimm.» «Dann wehr dich halt mal.»

Nicht nur Jugendliche, auch viele Erwachsene haben deshalb Mühe, ihren Frust, ihre Trauer, ihre Angst überhaupt zu identifizieren. Noch schwerer fällt die Unterscheidung zwischen «normalen» Gefühlen und pathologischen Zuständen. Im Vergleich zu anderen Jugendlichen finden sie immer jemanden, dem es noch schlechter geht: Die anorektische Freundin, der Kollege, der harte Drogen nimmt, der Junge aus der Parallelklasse, dessen Vater sich umgebracht hat oder das Mädchen, dessen Nacktfotos auf WhatsApp kursiert. Kurz: Viele Jugendliche erachten ihre eigenen Probleme als zu klein und den Schritt hin zu einer professionellen Hilfestelle zu gross.

Ihnen helfen Erwachsene mit feinen, im besten Fall professionellen Antennen, die sie regelmässig in einem unverbindlichen Rahmen sehen, die sie kennen und die als Vertrauenspersonen wahrnehmen. Solche Erwachsenen sind deshalb so wichtig, weil sie überall dort sind, wo der obengenannte Zufall Lücken hinterlässt: in der selbstgestalteten Freizeit der Jugendlichen, die als einzige Zeit in deren Leben viele kleine Möglichkeiten bietet, einen Erwachsenen um Hilfe zu bitten oder von ihm auf Veränderungen im Verhalten angesprochen zu werden. Hier befürchten Jugendliche keine Hilfe wider Willen. Hier bekommen Sie genau jene Unterstützung, die sie brauchen und bereit sind anzunehmen.

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