Es entspricht seiner notwendigen Entwicklung, dass ein jugendlicher Mensch störendes Verhalten an den Tag legt. Und doch versuchen wir Erwachsenen ein solches Verhalten zu pathologisieren, zu kriminalisieren oder zumindest moralisch abzuwerten. Einfach deshalb, weil es uns stört.
Dass Jugendliche von Bezugspersonen oder auch wildfremden Erwachsenen herablassende bis beleidigende Bemerkungen zu hören bekommen, ist an der Tagesordnung: Wer in der Wut gegen einen Gartenzaun tritt, ist krank, wer den Rock zu kurz trägt, ist nuttig, wer sich zu laut über den Sieg der Lieblingsmannschaft freut, ist rücksichtslos. Solche Zuschreibungen hören fast alle Jugendlichen irgendwann.
Dabei geht es in der Jugend genau darum, anders zu sein als die Erwachsenen, es geht darum, den Erwachsenen fremd zu werden, das Kindchenschema aus dem Gesicht zu schütteln, das neue Shirt von Oma als Wachstuch fürs Snowboard zu benutzen, Musik mit bösen Texten zu hören, dem schützenden Zugriff der Eltern dadurch zu entfliehen, dass man sie brüskiert. Das ist normales Verhalten.
Von den vielen Kontakten und intensiven Beziehungen unserer Jugendarbeitenden zu jungen Menschen wissen wir aus erster Hand: Sie wollen nicht stören. Sie wollen ihr Leben leben, das sich von demjenigen der Erwachsenen aus vielen Gründen unterscheidet.
Jeder Mensch, der erwachsen wird, geht von zu Hause weg, erweitert seinen Radius und die Zeiten seiner Abwesenheiten, probiert aus, wie sich Selbstbestimmung anfühlt, erfährt was Selbstverantwortung bedeutet, und versteht nach und nach, wo die Grenzen zu ungesundem oder störendem Verhalten liegen. Vom Alkohol zu erbrechen, ist unangenehm, den Lieblingsplatz am Tag nach dem nächtlichen Stelldichein zugemüllt vorzufinden, hinterlässt bei den Verursachern einen schalen Nachgeschmack, der eingedellte Briefkasten des Nachbars führt im nüchternen Zustand zu einem schlechten Gewissen. Jugendliche sind keine hohlen Idioten. Sie lernen durch Erfahrung, nicht durch Ermahnung, Strafe, Einschränkung.
Wo gehen diese Menschen hin, um Erfahrungen zu sammeln? Um erwachsen zu werden? Sie haben keine eigenen Räume, wo sie lautstark Musik hören, knutschen oder über Eltern, Lehrerinnen und Lehrmeister herziehen können. Sind also auf den öffentlichen Raum angewiesen.
Wenn wir als Gesellschaft nicht fähig sind, Jugendlichen diese Räume zu lassen, wo sie halt tatsächlich mal zu laut sind oder Abfall liegen lassen, dann gehen wir das Risiko ein, dass aus diesen Jugendlichen keine selbstbestimmten, verantwortungs- und rücksichtsvollen Menschen werden. Wenn sie bei ihrem Tun stets in der Öffentlichkeit stehen, weil es keine Ruinen und keine Brachen gibt, weil sie von Überwachungskameras gefilmt oder von Sicherheitsleuten kontrolliert werden, dann bringen wir sie um die Erfahrung, selbst zu entscheiden und die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen selbst zu erleben. Wir hindern sie am Austausch über die Generationengrenzen hinweg, am Erlernen von Konfliktbewältigung, am sicheren Auftreten in der Öffentlichkeit. Wir stehlen ihnen einen Entwicklungsschritt.
Also einfach zulassen, dass sie die Welt zumüllen, die Wartehäuschen beschmieren, Babys aus dem Schlaf reissen?
Nein. Es geht nicht darum, die Faust im Sack zu machen, sondern darum, diesen Konflikt einzugehen und auszuhalten. Erwachsene Menschen stehen stellvertretend für die eigenen Eltern. Sie sollen angewidert, genervt, empört sein. Und das dürfen sie auch. Fenster aufreissen und rufen: Wir wollen schlafen! Sagen: Es nervt mich, wenn ich Kippen aufheben muss, bevor ich die Kinder auf den Spielplatz lasse. Oder: So schäme ich mich mit dir am Familienfest. Es geht darum, authentische und persönliche Rückmeldungen zu geben.
Das ist nur möglich, wenn man das eigene Verhalten hinterfragt. Machen die Jugendlichen mit ihren Chipstüten, die sie neben einen überquellenden Mülleimer legen, mehr Dreck als wir mit unserem Auto? Wacht das Baby vom Grölgesang auf der Strasse wirklich auf oder trauern wir bloss der Zeit nach, als es für uns selbst noch kein Morgen gab?
Wer verlangt, dass sich Jugendliche am Bahnhof, vor dem Supermarkt, auf der Ruhebank oder am Seeufer nur aufhalten dürfen, wenn sie sich anständig benehmen, verkennt die Realität: nämlich, dass dann auch viele Erwachsene nicht sein dürften, wo sie sind, etwa weil sie den Hund freilaufen lassen, ohne alle Anwesenden um Erlaubnis zu bitten, oder weil sie den Rasen mähen, ohne zu fragen, ob das Nachbarsbaby den Mittagsschlaf hält oder weil sie in der Gartenbeiz über den Durst trinken und damit den Kindern am Nachbarstisch signalisieren, dass es völlig normal und gesellschaftlich anerkannt ist, die eigene Gesundheit an die Wand zu fahren.
Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der Erwachsene ein Bewusstsein darüber haben, dass die Jugend eine besonders herausfordernde Lebensphase ist, die alle durchleben, und dass die Ergebnisse dieser Entwicklung entscheidend davon abhängen, ob wir Erwachsenen den Jugendlichen gegenüber eine reife Haltung an den Tag legen.
Konkret bedeutet das: Erwachsene wissen, dass Jugendliche stören müssen, um sich gesund zu entwickeln. Sie können sich fragen: Fühle ich mich tatsächlich in einem eigenen Bedürfnis missachtet oder wird an ein Bedürfnis gerührt, für dessen Erfüllung ich eigentlich selbst zuständig wäre? Kann ich eine kleine Störung auch mal aushalten, so wie ich es tue, wenn ich mich durch Mitmenschen meiner eigenen Generation gestört fühle? Kann ich Vorbild sein und Toleranz üben? Übernehme ich Verantwortung für meine Bedürfnisse oder übergebe ich meine Probleme mit Jugendlichen auch dann der Polizei, dem Sicherheitsdienst, der Jugendarbeit oder der Schule, wenn sich nicht widerrechtlich sind und ich sie eigentlich auch selbst lösen könnte? Bin ich in der Lage, meine echten Bedürfnisse souverän und fair zu kommunizieren?
Eine reife Kommunikation – ob Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen gegenüber – unterstellt keine böse Absicht, artikuliert das eigene Bedürfnis präzis und formuliert den eigenen Wunsch ans Gegenüber als Bitte.
Uns ist bewusst, dass die Pandemie die Gemüter nicht nur in Bezug auf Corona empfindlich gemacht hat. Wir haben uns daran gewöhnt, dass der öffentliche Raum kaum mehr belebt und viel ruhiger war. Gerade das war den Jugendlichen zu verdanken, von denen die allermeisten ihre Bedürfnisse stark zurücknahmen, um uns Erwachsene zu schützen. Nun sollten wir uns unsererseits in Toleranz üben und ihnen die die Möglichkeit geben, zumindest einen Teil dessen nachzuholen, was sie verpasst haben.