Hausaufgaben abschreiben, im Bus aufs Handy der Sitznachbarin gucken, küssen. Lehnt ein Mädchen den entsprechenden Wunsch eines Jungen ab, muss es sich auf weitere Diskussionen einstellen. Das thematisieren Mädchen unseren Jugendarbeitenden gegenüber immer wieder. Wir haben bei einer Psychotherapeutin nachgefragt.
Frau Zenger*, immer wieder erzählen Mädchen unseren Jugendarbeitenden, dass Jungs ein Nein nicht akzeptieren – ob in Flirtsituationen oder bei der Bitte um einen Gefallen. Sie fragen weiter, drängeln oder sticheln. Bekommen Sie in Ihrem Arbeitsalltag einen ähnlichen Eindruck?
In meinem Arbeitsalltag habe ich es mit einer spezifischen Gruppe von Jugendlichen zu tun; die meisten von ihnen besuchen das Gymnasium. Ich kann also nicht für die Jugendlichen allgemein sprechen. Auch wer therapeutische Hilfe bekommt, ist ja nicht zufällig. Aber viele Mädchen erleben Grenzüberschreitungen, das ist richtig.
Hat sich grenzüberschreitendes Verhalten bei männlichen Jugendlichen über die letzten Jahrzehnte verändert?
Auch darüber kann ich keine allgemeine Aussage machen. Was sich sicher verändert hat, ist, dass die Geschlechtergrenzen aufgeweicht wurden. Es herrscht Unsicherheit darüber, was heute einen guten Mann ausmacht, was ein echter Mann sein soll. Die Jungs wissen weniger genau, an welchen Normen sie sich orientieren sollen: Da ist das Elternhaus, das sich je nach kulturellem und sozialem Hintergrund ein anderes Frauenbild vermittelt als es zum Beispiel den in der Schule propagierten Werten entspricht. Gleichzeitig gibt es eine starke Feminitische Bewegung, die sich in unterschiedlichsten Lebensbereichen und Ausgestaltungen zeigt. Manche Jungs haben das Gefühl, Frauen würden alles übernehmen, wenn sie nicht dagegen ankämpfen.
Was braucht es in der Entwicklung eines Jungen, damit er von Mädchen gesetzte Grenzen akzeptiert?
Es braucht Edukation in Schule und Familie. Ganz generell geht es darum, dass Bedürfnisse und Grenzen von Kindern respektiert werden und dass Kinder dazu angehalten werden, Bedürfnisse anderer zu respektieren. Eltern und Lehrpersonen sollten Gelegenheiten im Alltag zur Sensibilisierung nutzen, Gespräche führen, Selbstreflexion anregen. Es braucht gute Bildung über Geschlechtergerechtigkeit. Kein Mädchen sollte im Glauben oder mit dem Anspruch aufwachsen, Mädchen zeichneten sich dadurch aus, dass sie lieb und brav seien.
Welche Rolle spielen männliche Vorbilder?
Wie Eltern miteinander umgehen, wie sie über Geschlechterunterschiede reden, welche Rollen im Alltag sie übernehmen und welche Arbeitsteilung sie vorleben, beeinflusst das Männer- und Frauenbild von Kindern stark. Die Frage ist also: Was lebt ein Vater seinem Sohn vor? Es ist hilfreich, wenn Jungs mitbekommen, dass man unterschiedlichste Eigenschaften und Gefühle haben darf, dass also etwa Traurigkeit, Wut, Mitgefühl, Ausgelassenheit und vieles mehr nicht Geschlechtern zugeschrieben werden. Das können Eltern allein nicht leisten. Jungs brauchen unterschiedliche Rollenvorbilder. Das dürfen Männer sein, die das klassische Bild von Männlichkeit verkörpern oder ein Harry Styles, der mit den Klischees spielt und sie aufbricht. Wichtig ist, dass Rollenvorbilder für Respekt für andere Geschlechter stehen.
Wie kann die Offene Jugendarbeit diese Prozesse unterstützen?
Auch die Jugendarbeitenden können als Rollenvorbilder fungieren. Sie leben den Jugendlichen verschiedene Modelle vor und unterstützen sie darin, selbst authentisch zu sein. Die Offene Jugendarbeit schafft im Jugi, bei Themenabenden oder Projekten sichere Räume für Jugendliche, wo sie sich frei ausdrücken können. Weil die Offene Jugendarbeit über lange Zeit in tragende Beziehungen mit Jugendlichen investiert, lassen jene sich auch eher auf Gespräche und Diskussionen über Rollenbilder und Identität ein. Solche Gespräche sind essenziell, weil sie Verständnis, Toleranz und Integration in einer vielfältigen Gesellschaft fördern.
Brauchen auch Mädchen eine adäquate Begleitung oder Erziehung für den Umgang mit übergriffigen Männern?
Das Einstehen für die eigenen Grenzen sollte nicht geschlechterspezifisch gelehrt werden. Für alle Kinder ist es wichtig, früh für Grenzen sensibilisiert zu werden. In den Kindertagesstätten lernen Kinder, Stopp zu sagen und das Stopp eines anderen Kindes ernstzunehmen. Mädchen brauchen aber – genau wie Jungs – gute Vorbilder. Sie nehmen wahr, ob und wie sich eine Mutter oder eine Betreuerin abgrenzt, nicht nur gegenüber Männern. Stehen sie für ihre Bedürfnisse ein? Lehnen sie Zusatzaufgaben ab? Sind sie in der Lage, selbstfürsorglich zu sein?
Was halten Sie davon, Mädchen einzuschärfen, sich nicht zu sexy zu kleiden?
Ich finde Kleiderordnungen, die sich auf Freizügigkeit beziehen, schlecht. Damit wird ein schädlicher Mythos aufrechterhalten, nämlich der, dass Mädchen Verantwortung für das Verhalten von Jungs tragen. Ein Mädchen erzählte mir mal, die Lehrerin habe ihm gesagt, es solle keine Tops mit Spaghettiträgern anziehen, das sei zu offenherzig. Das Mädchen wehrte sich, indem es darauf verwies, dass die Jungs damit sollten umgehen können. Das fand ich stark. Der einzige Kontext, in dem ich Kleidervorschriften sinnvoll finden könnte, ist ein edukativer, nicht geschlechterspezifischer. Zum Beispiel, dass eine Lehrperson im Hinblick auf die Lehre mit einer Klasse der dritten Oberstufe bespricht, was für die Arbeit angemessene Kleidung ist.
Sollten Mädchen dazu angehalten werden, nachts nicht allein unterwegs zu sein?
Dass Männer Frauen physisch überlegen sind, können wir nicht ändern. Es ginge meines Erachtens weniger darum, Angst zu machen, als darum, Mädchen zu ermächtigen: Du darfst im Zug das Abteil wechseln, wenn du dich unwohl fühlst. Du darfst die Strassenseite wechseln, wenn dir jemand komisch vorkommt. Du darfst auch die Polizei anrufen. Das sind Verhaltensweisen, mit denen Kinder schon früh vertraut gemacht werden sollten: dass sie sich von Omi nicht küssen lassen müssen, dass sie Fragen nicht beantworten müssen, dass sie bei Arztbesuchen nicht alles mitmachen müssen.
Begünstigen digitale Kanäle Grenzüberschreitungen?
Vermutlich ist es einfacher, anonym Nein zu sagen, aber auch, ein Nein zu übergehen. Wenn man einander nicht ins Gesicht schaut, setzt man sich weniger mit den Bedürfnissen und Emotionen des Gegenübers auseinander. Nonverbale Kommunikation fällt komplett weg.
Kann das den persönlichen Kontakt dann auch beeinflussen?
Vielleicht verlernt man, im persönlichen Kontakt Grenzen zu kommunizieren. Aber das betrifft nur sehr wenige, die sich aus dem realen Leben zurückziehen. Wer weiterhin persönliche Kontakte pflegt, übt den Umgang mit Grenzen automatisch mit.
*Ramona Zenger ist selbständige Psychotherapeutin in Zürich mit langjähriger Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen.