Der Mythos jugendlicher Faulheit

Jugendliche chillen im Jugendhaus

Es ist ein Vorwurf, den sich Kinder und Jugendliche oft anhören müssen: Sie seien faul. Dem widerspricht der Sozialpsychologe Devon Price in seinem Buch „Laziness does not exist“. Sein Plädoyer, Faulheit nicht als Charaktereigenschaft, sondern als moralisches Urteil anderer zu definieren, ist gerade für Kinder und Jugendliche wichtig.

Mauro deckt den Tisch nur murrend ein? Jana lernt erst in letzter Minute für die Prüfung? Tim vergisst chronisch, die Hausaufgaben zu machen? Malea hängt nach der Schule ab, statt einem vernünftigen Hobby nachzugehen? Carla hat ihre Bewerbung immer noch nicht abgeschickt?

Faul. Allesamt.

Faulheit ist eine Eigenschaft, die Jugendlichen öfter zugeschrieben wird. Aber nicht nur ihnen. Gemäss Sozialpsychologe Devon Price kriegen auch Obdachlose, Arbeitslose sowie Menschen mit Beeinträchtigungen, Behinderungen oder Krankheiten den Stempel überdurchschnittlich oft aufgedrückt.

Der US-Autor ist jedoch überzeugt, dass Faulheit als Charaktereigenschaft gar nicht existiert, sondern bloss ein moralisches Urteil ist, das über Menschen gefällt wird, die mit schwierigen Umständen konfrontiert sind. Es sei eine Zuschreibung, die niemandem nütze.

Dieser Meinung sind auch wir.

In unserem Arbeitsalltag sehen wir Jugendliche oft, wenn sie vermeintlich faul sind. Im Sofa des Jugis hängend, den Blick unverwandt auf dem Handy; am Seeufer, rauchend vor musikalischem Hintergrund, der wummernd aus Lautsprechern dröhnt; stundenlang in derselben Imbissbude an einer Cola nippend.

Ob im Jugi oder aufsuchend unterwegs; unsere Jugendarbeitenden fragen nie, warum sie nichts Sinnvolles tun, welche Ziele im Leben sie verfolgen, ob ihnen bei der ganzen Rumhängerei nicht langweilig werde.

Sie lassen sie in Ruhe, setzen sich schweigend dazu oder hören ihnen zu. Dabei erhaschen sie manchmal Ausrufe wie: „Geil, endlich mal nichts tun.“

Jugendliche sagen das vor dem Hintergrund, dass sie in der und für die Schule oft ein Arbeitspensum leisten, das eine 40-Stunden-Woche weit übersteigt. Anders als bei Erwachsenen, die ihre Arbeitszeit zumindest zu Teilen selbstbestimmt mit Inhalten füllen, sind die Inhalte, mit denen sich Jugendliche beschäftigen müssen, von aussen vorgegeben und die Beschäftigung damit fast auf die Minute durchgetaktet. Nicht zuletzt hängt von ihrer Konzentrationsfähigkeit ihre Zukunft ab – in jeder Stunde ihrer Arbeitszeit stehen Jugendliche nicht nur unter Leistungs-, sondern auch unter Erfolgsdruck. Sie befinden sich in einem künstlich erzeugten Konkurrenzkampf mit ihren besten Freundinnen und Freunden um die begrenzten Plätze in der nächsten Schulstufe. Zur Anstrengung hinzu kommt so auch noch Druck auf die Psyche; niemand hat Freude an einem Sieg auf Kosten der engsten Bezugspersonen.

All das vergessen Erwachsene oft.

Was Kinder und Jugendliche in diesem dichten Programm und unter hohem Erwartungsdruck von Schule oder Lehre leisten, hat seinen Preis: Sie haben wenig unverplante Zeiten und noch seltener keine To-Do-Liste im Kopf. Was wiederum dazu führt, dass sie eigenen Impulsen kaum folgen können und sie zu spüren allenfalls sogar verlernen.

Wenn sie sich das Recht herausnehmen, faul zu sein, dann feiern wir Jugendarbeitenden das. Allein schon deshalb, weil es auf ein gesundes Seelenmanagement hindeutet, wenn Jugendliche sich Erholung zugestehen. Aber auch deshalb, weil in diesen Momenten das Verfolgen eigener Impulse und damit Kreativität erst wieder möglich werden.

Faulheit, das sagt auch Devon Price, beschreibt immer Zustände, die eigentlich etwas komplett anderes meinen: etwa die Angst, eine Aufgabe nicht bewältigen zu können, Unvermögen, einen Anfang zu finden oder Erschöpfung nach einer Phase intensiver Anstrengung.

Wir sehen auch, dass sich Jugendlichen fast permanent mit Themen auseinandersetzen müssen, die sie in diesem Moment nicht interessieren, dass sie also, was sie (täglich!) tun sollen, grundsätzlich nicht gerne tun. Jeder Tag kann ein Kampf gegen die eigenen Bedürfnisse sein, den sie dann halt manchmal verlieren.

Wir von der Offenen Jugendarbeit halten Faulheit für eine Tugend. Und wir unterstützen Jugendliche darin, ihr zu frönen.

Wir unterstützen sie dabei, ihre Interessen zu finden und zu verfolgen. Manchmal bedeutet das, sich zu Jugendlichen dazuzusetzen, wenn sie ein Musikvideo schauen. Manchmal heisst es, eine Idee aufzugreifen und Jugendliche in Gesprächen zu ermutigen, daraus ein Projekt werden zu lassen. Ihnen in Momenten der Überforderung bei der Umsetzung beizustehen. Es heisst aber auch: sie nicht davon abzuhalten, ein Projekt wieder loszulassen, wenn sich ihr Interesse etwas anderem zuwendet.

Wir sagen nicht: „Aber du wolltest doch …“, Oder: „Zieh das durch, dann kannst du nachher stolz auf dich sein.“ Und schon gar nicht: „Ohne Fleiss, kein Preis.“

Ein Projekt ist für uns nicht deshalb unterstützungswürdig, weil wir ein Ergebnis daraus erwarten, sondern weil die Jugendlichen dabei etwas lernen – wenn es nicht praktische Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem Projekt sind, dann sind es vielleicht weniger fassbare: den Umgang mit dem eigenen Energiehaushalt, das Wahrnehmen eigener Bedürfnisse und Leidenschaften, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Selbstwirksamkeit, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Wenn wir Jugendliche dabei beobachten, wie sie vermeintlich faul auf dem Sofa hängen oder wie irr auf dem Handy rumtippen, ziehen wir andere Erklärungen als Faulheit in Betracht: Vielleicht denkt er gerade über Wichtiges nach. Vielleicht unterstützt sie gerade ihre Freundin in einer Krise. Vielleicht tun diese Jugendlichen einfach genau das, was wir auch tun, wenn wir uns erholen wollen; sich in eine andere Welt begeben, seichte Unterhaltung geniessen, sich ablenken. Gönnen wir es ihnen!

Die Offene Jugendarbeit beschränkt sich aber nicht darauf, einen wertungsfreien Blick aufs vermeintliche Nichtstun oder Prokrastinieren zu haben. Sie behält auch diejenigen Jugendlichen im Auge, die sich zwischen den vermeintlich Faulen unruhig und getrieben fühlen. Gerade wenn sie zu einer Gruppe gehören, in der sie die einzigen sind, die sich nach Aktivität sehnen, begleiten wir sie darin, autonom ihren Bedürfnissen nachzugehen.

Von der Gesellschaft wünschen wir uns, dass sie mehr Raum für Jugendliche schafft, wo sie faul sein dürfen. Ganz konkret in Form von Räumen, wo sie von Erwachsenem ohne persönliche Erwartungen begleitet werden. Im übertragenen Sinne in Form einer Haltung, die sich nicht aus Vorstellungen speist, die Devon Price in seinem Buch als „Faulheitslüge“ bezeichnet: dass der Wert eines Menschen von seiner Produktivität abhänge, dass individuelle Bedürfnisse eine Bedrohung für die eigene Produktivität und damit für den Selbstwert darstellen – und dass es immer noch Möglichkeiten gäbe, mehr zu tun.

Wenn Jungs ein Nein nicht akzeptieren
Was uns Jugendliche wert sind