Langeweile – ein überschätztes Phänomen

Jugendlicher hängt auf dem Sofa im Jugendhaus

Unter Kindern verhasst, bei Erwachsenen hochgelobt: die Langeweile. Mit der Idee, die kindliche Kreativität zu fördern, liefern Erwachsene ihre Schutzbefohlenen dem Mangelzustand aus, während sie ihn selbst tunlichst vermeiden. Das ist nicht nur diskriminierend, sondern auch wenig zielführend.

Niemand mag das Gefühl, sich zu langweilen. Während Erwachsene sich selbst in solchen Momenten Ablenkung zugestehen, tun sie das bei Kindern nicht. Langeweile sei wichtig für Kinder, sagen sie. Nur aus der Langeweile entstünden kreative Impulse. Sie muten ihren Kindern zu, das Gefühl auszuhalten und weigern sich oft fast schon trotzig, sie bei der Suche nach einem Ausweg zu unterstützen. Auf den Hilferuf „Mir ist langweilig“ antworten sie:

„Musst dir halt was ausdenken.“

„Das ist dein Problem.“

„Du hast tausend Spielsachen.“

Wir halten dieses Verhalten für adultistisch.

Diskriminierung beenden

Gemäss Vielfalt.Mediathek beschreibt Adultismus den Missbrauch des Machtverhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen. Er schlägt sich darin nieder, dass Erwachsene ihre Vorurteile gegenüber Kindern und Jugendlichen nutzen – etwa sie seien faul, egoistisch oder unreif –, um ihr bevormundendes Verhalten zu rechtfertigen und um Strukturen zu schaffen, die auf erwachsene Bedürfnisse zugeschnitten sind.

Adultismus ist eine der verbreitetsten Formen von Diskriminierung, weil viele ihrer Ausprägungen unhinterfragt in der Gesellschaft wirken: So bestimmen meist die Eltern, was ihre Kinder zu sich nehmen oder wie warm sie sich anziehen; Lehrpersonen bestimmen, was Kinder wann lernen, wann sie sitzen, stehen, rennen und sprechen; Leistungen von Kindern werden bewertet, ohne dass diese umgekehrt die Möglichkeit haben, die Leistungen der Erwachsenen in ihrem Umfeld zu bewerten – geschweige denn Erwachsene zu belohnen oder zu bestrafen.

„Aber wir wissen aufgrund unserer Erfahrung besser, was für unsere Kinder gut ist und müssen deshalb über sie bestimmen“, lehnen Erwachsene sich gegen die Bewertung dieses Verhaltens als Diskriminierung auf – und offenbaren damit genau ihre adultistische Haltung. Wenn wir Kinder und Jugendliche respektieren als Menschen, die nicht erst geformt werden müssen, um als vollendete Mitglieder der Gesellschaft zu gelten, dann reicht es nicht, das Beste für sie zu wollen; wir müssen sie unterstützen, ohne sie zu bevormunden.

Was also bedeutet das für die Frage, wie wir mit kindlicher oder jugendlicher Langeweile umgehen?

Mangel verhindert Kreativität

Dr. John Eastwood, Principal Investigator des Boredom Labs der York University in Toronto, Kanada, definiert in seinem Artikel The Unengaged Mind: Defining Boredom in Terms of Attention Langeweile als „das unangenehme Gefühl, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können.“ Wenn wir diese Definition akzeptieren, dann wird uns klar: Kinder und Jugendliche brauchen uns im Moment der Langeweile. Sie wollen sich ja sinnvoll betätigen, sie können nur nicht.

Wir behaupten: Kinder und Jugendliche, deren Bedürfnisse gestillt sind, langweilen sich nicht. Entweder fliessen ihre Aktivitäten ineinander über, sie schweben quasi mühelos von einem fokussierten Zustand in den nächsten – das kann auch Gedankenreisen in totaler körperlicher Bewegungslosigkeit meinen. Es stellt sich also die Frage, welche Bedürfnisse es zu stillen gilt, damit Kinder und Jugendliche in einen Zustand kommen können, in dem sie kein Gefühl von Sinnlosigkeit empfinden.

Kinder fühlen sich vielleicht durch ein wildes Umfeld zu abgelenkt, um fokussieren zu können. Oder sie fühlen sich unter Fremden nicht sicher genug, um sich auf eine Tätigkeit einzulassen. Oder sie fühlen sich einsam an einem endlosen Sonntagnachmittag ohne Kontakt zu Gleichaltrigen und um Eltern, die eigenen Beschäftigungen nachgehen wollen. Ein Jugendlicher braucht nach einem durchgetakteten Tag in der Schule vielleicht erstmal das Gefühl, ein paar Minuten selbstbestimmt und ohne Erwartung von aussen zu verbringen, bevor er Impulse überhaupt spüren kann. Es gibt viele Gründe, in einer Zeit des Nichtstuns nicht in einen kreativen Prozess zu finden.

Es hilft nichts, wenn Erwachsene in einem solchen Moment in einen Aktionismus verfallen und sich langweilenden Kindern oder Jugendlichen eine Auswahl an Betätigungsfeldern vorzuschlagen. Viel hilfreicher ist, sich als Gegenüber anzubieten, an dem sie jenes Unwohlsein, das sie selbst nicht fassen können, spiegeln können. Das kann bedeuten, zusammen einen Tee zu trinken und das Gefühl gemeinsamen auszuhalten. Dabei braucht es aber die Aussicht auf ein Ende des Mangelzustands, entweder weil ein Impuls spürbar wird oder weil für danach ein gemeinsames Spiel angekündigt wird.

Indem Kinder und Jugendliche in Verbindung mit einem Menschen stehen, der sich für sie interessiert, können sie auch wieder Verbindung zu ihrem Inneren finden. Eine echte, interessierte Begegnung beseitigt sowohl das unmittelbar unangenehme Gefühl des Mangels, das durch Langeweile hervorgerufen wird, als auch den Mangel selbst – nämlich die Unfähigkeit, aus sich selbst zu schöpfen.

Selbstregulierung fördern

Forscher haben festgestellt, dass Langeweile mit einem Mangel an Selbstregulierungsfähigkeit zusammenhängt – das Merkmal eines frühen Entwicklungszustandes schlechthin. Kinder und Jugendliche müssen diese Fähigkeit erst lernen. Dabei brauchen sie uns. Mangelnde Selbstkontrolle führe dazu, dass man den Tag nicht strukturieren könne, wobei eine fehlende Tagesstruktur wiederum Langeweile fördert, erklärt etwa Prof. Dr. Sabrina Krauss von der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen in einem Beitrag des National Geographic.

Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass die mangelnde Fähigkeit zur Selbstregulierung dazu führt, dass Langeweile destruktive Bewältigungsstrategien nach sich zieht: eine aggressive Fahrweise, exzessiver Medienkonsum, ein ungesundes Esseverhalten, politische Radikalisierung.

Doch wie so oft in Mythen ein Fünkchen Wahrheit steckt, ist auch der Glaubenssatz, Langeweile fördere Kreativität, nicht aus dem Nichts entstanden. Tatsächlich können Pausen von Aktivitäten dazu führen, dass Reize sortiert werden und dadurch das Gehirn wieder fähig zu Konzentration und Kreativität wird. Solange Langeweile also in kleinen Happen bewusst akzeptiert und ausgehalten wird, kann sich der gewünschte Effekt tatsächlich einstellen. Unabhängig vom Alter eines sich langeweilenden Menschen plädieren Experten für Tagesstrukturen, die den Tag in Einheiten unterteilt, zu denen auch Momente der Langweile gehörten.

Quellen:

Vielfalt.Mediathek. Adultismus. https://www.vielfalt-mediathek.de/adultismus-elementarpaedagogik

Eastwood, John D. et al. (2012). The Unengaged Mind: Defining Boredom in Terms of Attention. Perspectives on Psychological Science. https://www.researchgate.net/publication/230801476_The_Unengaged_Mind_Defining_Boredom_in_Terms_of_Attention

Buenaventura, Barbara. (2021). Das Geheimnis der Langeweile. National Geographic. https://www.nationalgeographic.de/wissenschaft/2024/07/ende-der-internationalen-raumstation-was-geschieht-mit-den-ueberresten-der-iss-space

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