Die jährlich erscheinende Polizeiliche Kriminalstatistik eignet sich wenig dazu, den Zustand der Jugend einzuschätzen. Doch sie gibt Anlass, über den gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten – zu denen die Jugendlichen gehören – nachzudenken.
«Die Jugend wird immer krimineller», ging der Aufschrei durch die Medien, als die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) letztes Jahr erschien. «Die Jugendgewalt steigt!» und «Jugendlichen geht jegliche Empathie verloren.» Dieses Jahr blieb der Aufschrei aus: Gemäss PKS ist 2024 ein Prozent weniger Jugendliche als im Jahr zuvor angezeigt worden.
Aus der PKS abzuleiten, wie es um den Zustand der Jugend steht, ist heikel. Alarmismus bei steigenden Zahlen ist ebenso fehl am Platz wie entspanntes Zurücklehnen, wenn sie sinken. Denn erstens sind die Zahlen weit weniger aussagekräftig als sie wirken, und zweitens liefern andere Variablen als die Anzahl begangener Delikte wichtigeren Denkstoff.
Wie ist die Kriminalstatistik zu lesen
Die PKS bildet nur ab, wie viele Menschen pro Altersgruppe und Geschlecht welcher Tat beschuldigt werden. Alle begangenen Straftaten, bei denen es nicht zu einer Anzeige kam, sind nicht erfasst. Das bedeutet nicht nur, dass viel weniger Delikte abgebildet sind, als tatsächlich begangen wurden, das Verhältnis der Zahlen bei den Deliktarten ebenso wie die Verteilung auf Alter und Geschlecht, werden verzerrt dargestellt.
Dafür gibt es verschiedene Gründe – etwa das variierende Anzeigeverhalten je nach Delikt und Täter*in oder die teils knappen Ressourcen der kantonalen Polizeibehörden, die zu Priorisierungen bei den Ermittlungen zwingen. Vor allem aber: Beschuldigtenzahlen sind keine Verurteiltenzahlen. Jene zeichnen ein zumindest etwas realistischeres Bild. Gerade bei Jugendlichen, die wegen Nachtruhestörung, Littering oder Vandalismus angezeigt werden, weichen die Beschuldigten- und Verurteiltenzahlen deutlicher voneinander ab.
Nicht zuletzt sind die Zahlen nicht nach Regionen aufgeschlüsselt – sie sind bloss mit der Bemerkung versehen, dass sie von städtischen und ländlichen Regionen unterschiedlich beeinflusst sind. Sie sind also nicht repräsentativ für einzelne Regionen.
Medialer Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung
Ein weiteres Problem bei der Einordnung der Zahlen ist der Fokus der Medien auf die Gewaltstraftaten und auf die Jugendlichen. Tatsache ist jedoch, dass 68 Prozent der Anzeigen bei den Jugendlichen Vermögensdelikte ausmachen – in den meisten Fällen sind damit Ladendiebstähle gemeint. Ein Verhalten, das mehr über den Zustand der Jugend und ihre unerfüllten Bedürfnisse (nicht materieller Art!) aussagt, als jede Gewaltstatistik. Mehr darüber lesen Sie hier: https://blog.mojuga.ch/2025/03/22/stehlende-jugendliche-verstehen/
Zusammengefasst: Jugendliche delinquieren – aber sehr viel seltener und meist sehr viel harmloser als der mediale Fokus es vermuten lässt. Lassen wir dem Bruchteil schwer straffälliger Jugendlicher die nötige Aufmerksamkeit zukommen. Aber richten wir den Blick der Öffentlichkeit zumindest auch auf alle anderen. Was übersehen wir?
Integration ist keine Einbahnstrasse
Die MOJUGA Stiftung leistet in 35 Gemeinden Offene Jugendarbeit und hält in jeder einzelnen Leistungsvereinbarung als Ziel fest, Jugendliche in unsere Gesellschaft zu integrieren. Die Notwendigkeit einer solchen Zielvereinbarung zeigt, dass nicht ist, was eigentlich sein müsste: dass alle Menschen in der Gesellschaft, in die sie geboren werden, schon integriert sind. Werden sie als nicht integrierte Personen wahrgenommen, bedeutet das, dass sie nicht als vollwertige Mitglieder gelten, dass sie es also erst noch werden müssen – und zwar durch Leistung, beziehungsweise durch das Vorweisen von Erfolg.
Statt darüber nachzudenken, was jene, die die Forderung nach Integration stellen – nämlich die Erwachsenen – dafür tun könnten, dass sich Jugendliche integriert fühlen, erwarten sie, dass Jugendliche Erfolgsausweise und Leistungen einseitig erbringen.
Integration in der Schweiz meint: Sprich unsere Sprache, sei arbeitsfähig, pass dich an, falle nicht auf, halte dich an die Regeln. Das betrifft Migrierte und Jugendliche gleichermassen. Darüber zu mutmassen, warum Jugendliche als Randgruppe wahrgenommen werden – als Minderheit, die sich der Mehrheitsmeinung der Erwachsenen zu unterwerfen hat – sprengt diesen Rahmen.
Echte Integration ist jedoch keine einseitige Leistung. Zu Integrierende müssen ein Umfeld vorfinden, das offen, tolerant, interessiert, gemeinschaftlich und vorbildlich ist. Werden sie nur aufgefordert, sich anzupassen, ist bestenfalls zu erreichen, dass Störungen vermieden werden. Im schlechteren Fall fühlen sich die zu Integrierenden nicht wahr- und ernstgenommen und reagieren – im Gefühl, unter Einfluss eines Generalverdachts nie genügen zu können – frustriert.
Integrative Leistung der Offenen Jugendarbeit
Der Offene Jugendarbeit (OJA) stehen sämtliche Instrumente zur Verfügung, integrativ zu wirken. Durch ihre Grundprinzipien Offenheit, Freiwilligkeit und Beteiligung zeigt sie sich zugänglich für Sprache, Weltanschauungen, Leistungsbereitschaft und Verhaltensweisen aller Jugendlichen. Somit kümmert sich OJA nicht nur, aber auch um jene Jugendlichen, denen es schwerfällt, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Gelingt es Jugendarbeitenden, das Vertrauensverhältnis aufzubauen, nehmen sie sehr früh wahr, wenn Jugendliche sich in eine nicht konforme Richtung entwickeln und können Einfluss nehmen.
Jugendliche erfahren im Kontakt mit der OJA, dass sie als Menschen gesehen werden und nicht nur als Bündel von Verhaltensweisen. Das beginnt damit, dass man ihnen zuhört und auf Erzähltes mit Haltung statt mit Forderungen und (Mass-)Regeln reagiert. In weit über 70’000 Kontakten und Gesprächen mit Jugendlichen pro Jahr stellen unsere qualifizierten Jugendarbeitenden fest, dass Jugendliche – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Störungen verursachen bzw. selbst dann als störend erlebt werden, wenn sie das Verhalten Erwachsener imitieren. Nur Vereinzelte werden tatsächlich straffällig – hier ist Integration gescheitert.
Unrealistische Erwartungen
Die Tatsache, dass Jugendliche eine Minderheit sind, führt dazu, dass ihr natürlicher Entwicklungsprozess in der Pubertät bestimmten, von aussen definierten Regeln unterworfen ist: Jugendliche müssen sich aus der kindlichen Abhängigkeit herauslösen, ohne dabei zu stören, sie müssen sich einwandfrei selbst finden und sich idealerweise mit persönlichem, sozialem und politischem Engagement in die Erwachsenenwelt einbringen. Sie müssen diese Leistung innert zehn Jahren und unter dem Einfluss hormoneller Achterbahnfahrten erbringen, mit einem unvollständigen und unausgereiften sozialen Verhaltensrepertoire und oft mit Vorbildern, die selbst nicht vorleben, was sie von Jugendlichen erwarten.
Wie viele Erwachsene bringen sich persönlich, sozial und politisch in die Gesellschaft ein? Das Vereinssterben, die tiefen Teilnahmezahlen an Elternabenden, lächerliche Stimmbürgeranteile an Gemeindeversammlungen und erschreckend tiefe Abstimmungsbeteiligung deuten darauf hin, dass wir die Zahlen lieber nicht recherchieren sollten. Kurz: Erwachsene messen Jugendliche nicht an ihren eigenen, sondern an ersehnten Massstäben.
Fazit
Nicht nur aufgrund ihrer geringen Aussagekraft nutzen wir die Zahlen der PKS nicht zur Einschätzung des Allgemeinzustands unserer Jugendlichen. Sondern auch deshalb, weil wir nicht akzeptieren, dass Jugendliche an ihrem delinquenten Verhalten gemessen werden. Erst, wenn die Jugendphase gesamtgesellschaftlich als Phase des Umbruchs in einem vollwertigen Menschenleben anerkannt wird, können Delikte mehr über die Jugendlichen als über die Gesellschaft, in der sie leben, aussagen.
Solange Jugendliche jedoch als Störenfriede, die sich anpassen sollen, als Ausländer*innen, die sich integrieren sollen, als Querdenkende, die Regeln akzeptieren müssen, gebrandmarkt werden, legen wir unseren Fokus auf den Druck, den diese Menschen aushalten. Auch wenn wir mit unseren verschwindend kleinen Aufträgen auf verlorenem Posten stehen, bleiben wir dabei, uns Jugendlichen offen und ernsthaft anzunehmen – ohne Erwartung, dass aus ihnen etwas Bestimmtes werden soll, sondern um ihnen überhaupt die Chance geben, zu sich selbst zu finden und in sich zu entdecken, was sie als vollwertige Mitglieder zur Gemeinschaft beitragen können.
Erstmals erschienen am 25.4.25 bei PolitReflex