Nach der Messerattacke eines 15-Jährigen auf einen Mann jüdischen Glaubens forderte Regierungsrätin Jacqueline Fehr die Gemeinden auf, mehr Geld in die Gewaltprävention zu investieren. Die Reaktion seitens Gemeinden fiel geharnischt aus. Nun sollen Zahlen als Grundlage für weitere Diskussionen her. Die MOJUGA hat diese Arbeit in den letzten Jahren bereits vorweggenommen.
Der islamistisch motivierte Angriff eines Jugendlichen wühlte die Schweiz auf. Tagelange Presse, Suche nach Erklärungen und hilflose Vorschläge, solche Taten in Zukunft zu verhindern. Einer davon: das Jugendstrafrecht zu verschärfen.
Dass diese Idee in Fachkreisen nur Kopfschütteln auslöst, ist selbstredend. Alle, die sich je mit Radikalisierung befasst haben, wissen, dass Menschen, die sich solchen Gruppierungen und Ideen zuwenden, kaum das Gefühl haben, noch etwas verlieren zu können. Hätten sie es, würden sie sich nicht derart in eine Ideologie verstricken, dass sie Gewalt als eine valable Handlungsoption erachten. Dass härtere Strafen abschreckend wirken, konnte nie belegt werden. Daten (etwa der Vergleich der Kriminalitätsrate zwischen Ländern mit verschieden scharfem Strafrecht) sprechen eher dagegen.
Mit Regierungsrätin Jacqueline Fehr haben Widersprecher solcher Ideen eine prominente Vertretung in Politik und Öffentlichkeit gefunden. Sie hat den Fokus auf eine kaum wahrgenommene, aber umso potentere Möglichkeit der Prävention gelenkt: die offene Jugendarbeit, die auf genau jenes Mittel setzt, das in der Fachwelt als wirksamstes gegen Radikalisierung und Gewaltbereitschaft gilt, nämlich tragende Beziehungen.
Mit öffentlichem Auftrag
Die Offene Jugendarbeit ist die einzige Akteurin der ausserschulischen Kinder- und Jugendförderung, deren Beziehungsarbeit durch einen öffentlichen Auftrag legitimiert und behördlich gesteuert ist und damit der Gesamtbevölkerung die Möglichkeit eröffnet, Verantwortung für die Jugendlichen und ihre Entwicklung hin zu gut integrierten, zufriedenen und engagierten Erwachsenen zu übernehmen.
Ist sie professionell aufgebaut und wäre sie ausreichend besetzt, hätte sie das Potenzial, zu sämtlichen Jugendlichen einer Gemeinde Kontakt zu halten, ihr Vertrauen zu gewinnen und ungünstige Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Diese Fähigkeit ist den Grundpfeilern der Offenen Jugendarbeit – Offenheit, Freiwilligkeit, Partizipation – zuzuschreiben.
Eine solche Jugendarbeit ist offen für alle Jugendlichen, egal welche Weltanschauung sie haben, egal wie sehr sie provozieren und anecken. Die Jugendarbeitenden hören ihnen zu, ohne zuzustimmen, sie nehmen sie ernst, ohne zurückzuweichen. Im Jugendhaus trauen sich Jugendliche, sich antisemitisch, rassistisch, sexistisch zu äussern, aber sie wissen auch, dass das nicht unkommentiert und unreflektiert im Raum stehen bleibt. Hier bleiben radikale Weltansichten nicht im Dunkeln, sie werden nicht vor Gleichgesinnten geäussert, deren einzige Reaktion ein Schulterklopfen ist. Im Jugendhaus stossen sich radikalisierende Jugendliche auf Widerspruch, Reibung und Herausforderung im Denken. Sie erfahren, dass ihre gewaltverherrlichende Haltung keine Akzeptanz erfährt, sie als Mensch jedoch schon.
Das Angebot einer verlässlichen Ansprechperson anzunehmen, bleibt jedoch den Jugendlichen überlassen. Anders als Eltern, Schule, Vereine und Verbände knüpft die Offene Jugendarbeit das Beziehungsangebot nicht an Ansprüche, Erwartungen und Ziele. Dadurch wird es ungleich lieber in Anspruch genommen. Die Jugendlichen haben die Sicherheit, dass ihre Bedürfnisse und Sorgen Gehör finden und ihre Interessen vertreten werden. Auf dieser Vertrauensbasis kann die Jugendarbeit gemeinsam mit den Jugendlichen Projekte erarbeiten, bei denen sich die Jugendlichen möglichst selbstverantwortlich Lernfelder erschliessen. Sie bietet ihnen Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten und damit wertvolle Erfahrungen der Selbstwirksamkeit.
All das ermöglicht den Jugendlichen ein Gefühl der Zugehörigkeit, nicht nur im Jugendhaus, sondern in ihrem Alltag, in ihrer Gemeinde und letztlich in der Gesellschaft.
Daten offenbaren geringe Investitionen
Doch genau für diese einzige Chance, Jugendliche flächendeckend zu erreichen und sie in eine Verbindlichkeit in ihrer Beziehung zur Gesellschaft einzubinden, wird viel zu wenig Geld investiert. Das lässt sich anhand von Zahlen herleiten, die die MOJUGA Stiftung in den vergangenen Jahren gesammelt hat.
Betrachtet man die Daten im Kanton Zürich, stellt man fest: Heute soll eine Vollzeitjugendarbeiterin der Offenen Jugendarbeit eine vertrauensvolle Beziehung zu mindestens 500 12- bis 18-Jährigen halten. In dieser Rechnung ist noch nicht berücksichtigt, dass dieselbe angenommene Jugendarbeiterin in ihren wöchentlich 42 Stunden zusätzlich die Beziehungen zu den 10- bis 12-Jährigen aufbaut und dass jene zu den über 18-Jährigen nicht einfach abbricht, nur weil diese volljährig werden. Um auch nur annähernd das oben beschriebene Potenzial auszuschöpfen, wäre mindestens eine Verzehnfachung der Ressourcen nötig.
Damit hätte die offene Jugendarbeit immer noch viel weniger Mittel zur Verfügung als zum Beispiel die Schule. Während für die formelle Bildung pro Einwohner und Jahr im Kanton Zürich durchschnittlich fast 2500 Franken ausgegeben werden, lassen sich Gemeinden die informelle Bildung, die neben Kirchen, Verbänden und Vereinen auch die Offene Jugendarbeit aktiv gestaltet, rund 20 Franken kosten. Gerechnet auf das gesamte Steuervolumen ist das nicht einmal ein halbes Prozent. Am meisten investieren die Agglomerationsgemeinden, am wenigsten die kleinen Landgemeinden (bis 6000 Einwohner). Rund 30 von 160 Gemeinden leisten sich gar keine Offene Jugendarbeit.
Warum schöpft die Gesellschaft dieses Riesenpotenzial an Prävention nicht aus? Weil die meisten Gemeinden diese Möglichkeit erst dann in Betracht ziehen, wenn Sicherheit und Ordnung gestört sind. Dass Offene Jugendarbeit im Sinne einer Förderung und nicht einer Sicherheitsmassnahme eingesetzt wird, kommt äusserst selten vor. Um ein friedliches und konstruktives Zusammenleben zu fördern, reichen Reaktionen auf Missstände nicht aus. Stattdessen braucht es eine langfristige Investition in die beschriebenen Beziehungen. Während Gemeinden für Sicherheit und Ordnung durchschnittlich rund 200 Franken pro Einwohner und Jahr ausgeben, gehen nicht einmal 20 Franken an die Offene Jugendarbeit.
Aus Sicht der Fachwelt ist ein genauer Blick darauf, welchen Stellenwert Gemeinden der Offenen Jugendarbeit konkret in ihrem Budget einräumen, also überfällig. Genauso wichtig ist die Frage, wie die vorhandenen Mittel in der Offenen Jugendarbeit möglichst wirkungsvoll eingesetzt werden. In den Gemeindeberatungen der MOJUGA Stiftung unterstützen wir Gemeindebehörden dabei, eine zu den spezifischen Gegebenheiten der Gemeinde passende Offene Jugendarbeit zu etablieren.